Kindern Glauben Erzählen – Vortrag von Gottfried Mohr

Diesen Vortrag hat Gottfried Mohr, lange Jahre Kinderkirch-Pfarrer in Württemberg, beim Studientag Konfi 3 am 24.10.2015 gehalten. Wir danken ihm herzlich für seine Impulse und dafür, dass er uns seinen Text zur Verfügung stellt. Weitere Eindrücke und Materialien vom Studientag gibt es in diesem Beitrag.

Einleitung: Kinder erzählen

Am Mittwoch saßen drei neunjährige Fußballer auf der Rückbank unseres Autos. Wir brachten sie zum Punktespiel von Tübingen nach Dusslingen. Während der Fahrt erlebten wir ein Feuerwerk der Erzählkunst. Eine Geschichte jagte die andere. Es wurden die verrücktesten Ideen  fantasiert und die komischsten Situationen  belacht.  Es ging um starke Autos und verrückte Fahrräder: „das DDR-Fahrrad von Ferrari“. Es ging um den Vater, der in die Werkstatt musste, weil er kaputt war. Er konnte repariert werden, muss sich aber jeden Morgen seinen Kopf mit Tesafilm ankleben. Wir brauchten kein Radio auf dieser Fahrt. Und ich dachte im Blick auf heute: Ja, Kinder erzählen. Ja, Kinder lieben und brauchen Geschichten. Das ist  unser Thema heute. Die Zuspitzung auf Geschichten vom Glauben bringen Sie mit durch ihre gemeinsame Aufgabe: KONFI 3.

I. Geschichten wachsen in meinem  Kopf

Juliana spielt allein  im Garten. Sie findet einen Grashalm. Sie spricht spricht laut vor sich hin. Es geht um Situationen, die sie heute im Kindergarten erlebt hat. Mehr erfahre ich nicht. Ich will und kann sie nicht belauschen. Wenn sie mich sieht, brechen ihre Geschichten ab.

Es stimmt schon: Geschichten wachsen bei uns Menschen im Kopf.

„An was denkst du gerade?“

Wenn wir so gefragt werden, antworten wir meistens: „An gar nichts!“ Das ist aber die einzige Antwort, die sicher falsch ist. Denn wenn wir eins nicht können, dann ist das: an nichts denken.

Uns gehen dauernd Gedanken im Kopf herum.

Wo kommen unsere Gedanken her?

Unsere Gedanken sind angestoßen von:

1. Einflüssen von außen. Unsere Sinnesorgane geben sie ans Gehirn weiter.

Wir sehen, riechen, hören, fühlen.

„Wie riechts denn hier? Mmmh, nach Mittagessen, ich habe Hunger.“

Wahrnehmungen lösen bei uns dauernd Gedanken aus.

 

2. Ideen von innen:

– Wir erinnern uns plötzlich an etwas. Es meldet sich zu Wort, was wir erlebt haben.

– Gefühle melden sich: Ich fühle mich wohl. Ich habe Angst. Mir tut etwas weh.

– Uns fällt etwas siedig heiß ein. Das kann eine gute Idee aber auch ein schlechtes Gewissen sein.

– Uns kommen Ideen: „Wir planen die nahe oder ferne Zukunft. Nachher will ich … Morgen ist … Jetzt gleich muss ich mir die Nase putzen.“

3. Wir setzen unser Gehirn ganz bewusst zum Nachdenken ein: Mein Freund hat Geburtstag. Was soll ich ihm schenken? Schwierige Frage. Wir zermartern das Gehirn. Uns fällt nichts ein. In solchen Fällen haben wir das Gefühl, als wäre unser Kopf wirklich ganz hohl, ganz leer.

Woraus bestehen Gedanken?

Gedanken bestehen aus Sprache. Der Stoff meiner Gedanken sind Worte. Es ist das gleiche Medium, mit dem ich Kontakt zu anderen Menschen aufnehme.

Wenn jemand lange in England ist, sagt er: „Ich fange an, Englisch zu denken.“ Oder: „Ich fange an, Englisch zu träumen.“ Unsere Träume sind ja Nachtgedanken. Unser Gehirn arbeitet auch, wenn wir schlafen.

Was passiert, wenn wir denken, kann man so beschrieben: Wir führen dauernd ein Gespräch mit uns selbst.

„Denken ist das Gespräch zwischen mir und mir selbst.“ Das hat Plato gesagt.

Die Gedanken einer gedemütigten Seele
Im Musical „My Fair Lady“ hören wir die Gedanken der gedemütigten Elizza Dolittle:

Wart’s nur ab! Henry Higgens! Wart’s nur ab!
Deine Tränen werden fließen nicht so knapp.
Du wirst arm und ich werd reich sein.
Ich dir helfen – nur nicht weich sein.
Warts nur ab! Henry Higgens! Warts nur ab!

Und sie malt sie sich aus, wie der Verhasste zum Tod durch Erschießen verurteilt wird. Sie selbst gibt dem Erschießungskommando den Befehl.

Solche Gedanken erfindet unsere gedemütigte Seele. Und wenn wir jetzt genau beobachten, sehen wir: Aus Gedanken ist eine Geschichte geworden.

 

Erzähltipp:

Wir denken in wörtlicher Rede. Deshalb brauchen Geschichten wörtliche Rede.

 

Überprüfen der Geschichten, die wir vorlesen oder erzählen:

Sind sie so erzählt, wie Gedanken sprechen.

Nicht: „Die Ankunft der Zuges ist um 18.00 Uhr.“

Sondern: „Der Zug kommt um sechs an.“

Erzähltechnik: Bewusstseinsstrom
Erzählt werden die scheinbar ungeordneten Bewusstseinsinhalte einer Figur.

Die Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle und Reflexionen der Erzählfigur erden so wiedergegeben, wie sie durchs menschliche Bewusstsein fließen.

Beim inneren Monolog wird das Selbstgespräch einer Figur wiedergegeben.

 

Gedanken des Esels vom barmherzigen Samariter:

„Mein Herr hat mich hier einfach angebunden. Na gut, es ist Schatten und die Last hat er mir auch vom Rücken genommen: die prall vollen Weinschläuche und das schwere Ölfass. Aua, was tun die Druckstellen weh!

Und jetzt treibt er Handel mit seinen Waren. Ich darf ausruhen, eigentlich nett von ihm.

Viel Gras hat’s hier ja nicht, aber wenigsten hat er mir Wasser hingestellt.

Nanu! Da sind ja noch mehr Leute hier, nicht Esel: Menschen.

Die Männer da im Schatten reden ohne Punkt und Komma.

Über was sich Menschen so alles Gedanken machen können!

Au, da kommt noch einer dazu. Gut angezogen ist der. Sieht aus wie ein Gebildeter, vielleicht auch ein Eingebildeter.

Jetzt geht er gerade zu dem Mann in der Mitte.

„Meister!“, redet er ihn an.

Ehrfurchtsvoll, dabei sieht der gar nicht wie ein Meister aus, eher wie ein armer Wanderer.

Was fragt der?

„Was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?“

Mann, hat der Probleme. Typisch Mensch! Dem reichen die Stunden von Sonnenaufgang bis

Sonnenuntergang, dem reichen die Monate und Jahre nicht, die man sich den Buckel krumm macht. Der kann nicht genug vom Leben bekommen, der will ewig leben.

Mir reicht mein kurzes Eselleben, ist ja manchmal grau wie mein Fell.“

Soweit der Anfang der Geschichte vom barmherzigen Samariter, erzählt als Bewusstseinsstrom eines Esels, der nachher in der Geschichte noch eine wirklich tragende Rolle spielen wird.

II. Wir finden und erfinden unsere eigenen Lebensgeschichten

„Ich muss dir unbedingt erzählen, was mir passiert ist!“

So fängt das Gespräch zweier Freundinnen an. Vielleicht wohnen sie nur zwei Straßen voneinander entfernt, aber sie erzählen sich lieber die Geschichte von Handy zu Handy.

„Heute hat mich ein alter Mann dumm angemacht, weil ich bei Rot über die Ampel gegangen bin. Und ausgerechnet der Markus aus der C-Klasse hat das mitgekriegt.“

Wir erzählen, was uns passiert ist. Wir teilen ein Erlebnis mit einem anderen Menschen. Wir erleben beim Erzählen das Erlebte noch einmal. So verarbeiten wir es. Deshalb gibt es Geschichten, die wir nicht nur einmal sondern wieder und wieder erzählen wollen und müssen.

Erzählt wird, was einen wirklich betroffen hat. Belanglosigkeiten müssen nicht erzählt werden.

Menschen erzählen von Unglücksfällen, von Krankheiten, die sie durchgemacht haben oder unter denen sie leiden. Alte Männer reden von ihren Kriegserlebnissen. Mütter erzählen von den Geburten ihrer Kinder. Kinder erzählen von Siegen und Niederlagen in der Schule, auf dem Sportplatz.

 

„Ich erzähle von mir, damit du weißt, wer ich bin.“

Geschichten, die ich von mir erzähle, sind beides: Selbstoffenbarung und Selbstdarstellung.

„Gestern habe ich vor dem REWE einen Geldbeutel gefunden. Ich bin gleich zu der Kassiererin gegangen und hab ihn abgeben wollen. War gar nicht nötig, denn da fragte gerade ein junger Mann: ‚Habe ich hier meinen Geldbeutel liegen gelassen?’ Mann, war der  froh, wie ich ihm seinen Geldbeutel gegeben habe.“

Mit so einer Geschichte kann ich mich sehen lassen.

 

In vertrautem Kreise kann ich auch meine Schwächen erzählen.

Ein guter Freund, eine gute Freundin, sagt man zu Recht, ist ein Mensch, dem ich alles erzählen kann. Wir brauchen also nicht nur das Erzählen, wir brauchen auch die Menschen, die uns zuhören.

Der Meistererzähler Rafik Schami hat gesagt: „Ich lernte als erstes nicht das Erzählen; ich lernte als erstes das Zuhören.“

Wenn wir wollen, dass Kinder unsere Geschichten erst nehmen, dann müssen sie bei uns auch offene Ohren finden für ihre Geschichten. Wer nicht zuhören will, soll auch nicht erzählen.

 

Ich erfinde eine Geschichte und versuche, die Wirklichkeit zu verändern

Die zweieinhalbjährige Caterina beim Arzt. Sie wehrt sich mit Händen und Füßen. „Ich will nicht Blut abnehmen!“, sagt sie. Und schließlich erfindet sie eine Geschichte und sagt im Brustton der Überzeugung: „Ich habe gar kein Blut!“

Sie erfindet eine Geschichte und hofft damit, die unerfreuliche Wirklichkeit zu verändern. Natürlich ist ihr dies in diesem Fall nicht gelungen. Aber der Versuch war es wert.

Erzähltipp
So wie alle Geschichten ihren Anfang in den Selbstgesprächen unserer Gedanken haben, so hat alles mündliche Erzählen seine Wurzel in der Ich-Erzählung. Kinder hören gerne Geschichten aus der Ich-Perspektive.

III. Wir finden uns wieder in Geschichten

A erzählt und B hört zu. B sagt nach der Geschichte: „Mir ist was ganz ähnliches passiert…“ und erzählt eine zweite Geschichte. So ergibt eine Geschichte eine andere.

„Ich probiere Geschichten an wie Kleider.“ (Max Frisch)

In der Anprobekabine:

Ich ziehe ein Kleidungsstück an. Ob es mir passt?

Ich stehe vor dem Spiegel:

Wie steht mir das Kleidungsstück?

Sehe ich so aus, wie ich gesehen werden will?

Kleider machen Leute.

Macht dieses Kleidungsstück den Menschen aus mir, der ich sein will?

Passt diese Kleidung zu der Rolle, die ich im Leben spielen will oder manchmal auch spielen muss.

 

„Ich probiere Geschichten an wie Kleider.“ Geschichten helfen mir dazu, der Mensch zu werden, der ch sein will.Geschichten machen Leute.

 

Deine Geschichte wird meine Geschichte:

Wenn ich Geschichten höre, schlüpfe ich in die Haut einer der Figuren der Geschichte. In dieser Rolle durchlebe ihre Erlebnisse, mache ich ihre Erfahrungen, erleide ich ihr Leiden, freue ich mich an ihrem Glück, teile ihre Gedanken und Vorstellungen.

Zum Glück wird beim Hören der Geschichte lange nicht so heiß gegessen, wie in Wirklichkeit gekocht wurde. Das ist ein Vorteil von Geschichten.

Wie sehr fremde Geschichten meine Geschichten werden können, sieht man ganz einfach daran, dass wir beim Zuhören von fremden Geschichten zu Tränen gerührt werden können, dass wir bei Gruselgeschichten eine Gänsehaut bekommen können und dass wir manchmal laut herauslachen.

Erzähltipp:  Geschichten müssen Identifikationspersonen anbieten. Sie müssen so dargestellt sein, dass es einladend ist, sich in sie hineinzuversetzen. Astrid Lindgren ist dies genial gelungen. Wie viele Kinder haben sich in die Haut von Pipi Langstrumpf versetzt. So möchte ich auch sein!

Ein Witz von Fritzchen

„Geht Fritz mit seiner Oma spazieren. Liegt ein Hundert-Euro-Schein auf dem Boden. Fragt Fritz: „Darf ich den aufheben?“

„Nein, was auf dem Boden liegt darf man nicht aufheben.“

Rutscht die Oma auf einer Bananenschale aus und sagt zu Fritz: „Hilf mir bitte hoch.“

„Nein, was auf dem Boden liegt darf man nicht aufheben!“

Ein absoluter Lieblingswitz der Neunjährigen. Meine Enkel haben mir diesen Witz immer wieder erzählt. Ich frage mich warum? Sie identifizieren sich mit Fritzchen. Es gelingt ihm, die Oma, die immer Recht zu haben beansprucht, mit eigenen Waffen zu schlagen. Das ist für sie eine gute Geschichte.

Lebensgeschichten und ihre Themen
Wir hören Geschichten und spielen Lebensmöglichkeiten durch.

Das gelingt, wenn die Geschichten grundlegende Lebensthemen behandeln.

Welches sind diese Themen, die uns lebenslang begleiten und beschäftigen?

  • Von Krankheit und Tod
  • Von Hunger und Durst
  • Von Unglück und Rettung
  • Von schwierigen und geglückten Beziehungen
  • Vom Groß-, Erwachsen- und Älterwerden
  • Von Stärke und Schwäche
  • Von Gut und Böse, vom Richtigmachen und Falschmachen
  • Von Angst und Hoffnung im Blick auf die Zukunft
  • Von den Rätseln der Welt
  • Von der Suche nach dem Sinn des Lebens und nach Gott

Meine Schatztruhe mit Geschichten

Ich erinnere mich an eine Geschichte, die in unserem Lesebuch der 3. Klasse stand. Die hab ich nicht mehr vergessen, seit der Zeit, wo ich so alt war wie die Konfi3-Kinder, um die es heute geht.

„Zwei Fuhrleute begegneten einander in einem Hohlwege, und es war nicht leicht, wie der eine dem andern ausweichen sollte. „Fahre mir aus dem Wege!“, rief der eine. „Ei, so fahre du mir aus dem Wege!“, rief der andere. „Ich will nicht!“, sagte der eine. „Und ich brauche nicht!“, sagte der andere, und weil keiner nachgab, kam es zu einem heftigen Zank und zu Scheltworten.

„Höre du“, sagte endlich der erste, „jetzt frage ich dich zum letzten Mal, willst du mir aus dem Wege fahren oder nicht? Tust du’s nicht, so mache ich’s mit dir, wie ich’s heute schon mit einem andern gemacht habe.“ Das schien dem zweiten doch eine bedenkliche Drohung. „Nun“, sagte er, „so hilf mit wenigstens, deinen Wagen ein wenig beiseite schieben, ich habe ja sonst nicht Platz, um mit dem meinigen auszuweichen.“ Das ließ sich der erste gefallen, und in wenigen Minuten war die Ursache des Streites beseitigt.
Ehe sie schieden, fasste sich der der aus dem Wege gefahren war, noch einmal ein Herz und sagte zu dem andern: „Höre, du drohtest doch, du wolltest es mit mir machen, wie du es heute schon mit einem gemacht hättest; sage mir doch, wie hast du es mit dem gemacht?“ „Ja, denke dir“, sagte der andere, „der Grobian wollte mit nicht aus dem Wege fahren, da – fuhr ich ihm aus dem Wege!“

Eine Geschichte, die mir ein Leben lang im Gedächtnis geblieben ist. Anderen wird es ähnlich gegangen sein. Es war ganz leicht, diese Geschichte im Internet zu finden. Es gibt einen Geschichtenschatz, den jede und jeder in einer Truhe des Gedächtnisses bewahrt.

Jede und Jeder  von uns kann sich fragen: Was sind meine Geschichten, die ich in der Schatztruhe meines Gedächtnisses aufbewahrt habe  und nicht hergeben will?

Schatztruhe der Geschichten aus Literatur und Tradition
Es gibt ganz berühmte Geschichten, die alle Leute kennen, die somit zum Gemeinschaftsschatz unserer Kultur gehören:

  • Max und Moritz
  • Das fliegende Klassenzimmer
  • Spuren im Sand
  • Die Ringparabel
  • Die Bremer Stadtmusikanten

Es  können Geschichten aus der Literatur sein (Ringparabel), oder aus mündlich überlieferter Tradition (Märchen).

„Erzähl mir keine Märchen!“ Mit diesem Ausspruch werden Märchen missverstanden. Es sind keine Lügengeschichten. Es sind Wahrheitsgeschichten.

 

Geschichten und Lebensthemen

Die schöne Geschichte von der kleinen Raupe Nimmersatt berührt mehrere Lebensthemen:

  • Von Hunger und Durst
  • Vom Groß- und Erwachsenwerden
  • Von den Rätseln der Welt

 

Von der Wahrheit der Geschichten
Wir erzählen Geschichten von uns. Wir hören Geschichten von anderen. Wir erdenken uns Geschichten. Uns begegnet die Welt der Geschichten in Literatur und Überlieferung.

Die Wahrheit einer Geschichte liegt nicht darin, ob sie tatsächlich so passiert ist, sondern ob sie etwas aussagt, dass für meine Lebensgeschichte wertvoll ist.

  • Geschichten fürs Leben sind …
    Erfahrungen anderer für  mich weitergegeben
  • Wir behalten Geschichten, das heißt, wir können auch in späteren Situationen auf diesen Erfahrungsschatz zurückgreifen.
  • Geschichten sind Angebote. Ich kann sie für mich so übernehmen, wie sie für mich passen. Ich kann mich auch an ihnen reiben und mich gegen sie entscheiden.
  • Geschichten geben Moral ohne erhobenen Zeigefinder weiter.
  • Geschichten müssen sich nicht der Realität unterwerfen. Sie sind offen für Träume, Fantasien und unerfüllte Lebensmöglichkeiten.

Weil wir neugierig sind und gerne erfahren, wie es anderen ergeht, macht das Hören von Geschichten Spaß. Geschichten bieten gute Unterhaltung.

Erzähltipp:
Geschichten als Lebensgeschichten erzählen.

  • Mein Antrieb: „Ich muss dir etwas erzählen!“ Ich erzähle nur, was ich wirklich erzählen will. Keine belanglosen Geschichten! Die Kinder sollen von den Geschichten berührt werden.
  • Ich erzähle etwas, das mit den Kindern, ihren Lebensthemen und ihrer Lebenssituation zu tun hat.
  • Ich erzähle spannende Geschichten, die in sich stimmig sind. Das heißt nicht, dass alle Fakten stimmen müssen. Es ist egal, ob das Auto, das mich beinahe überfahren hätte, rot oder weiß ist. Stimmen müssen die Empfindungen. Der Schreck, wie das Auto auf mich zugerast kam. Es ist egal, dass Elefanten in echt nicht reden können. Wichtig ist, dass Benjamin Blümchen ein toller Kerl ist.
  • Die Geschichten müssen so erzählt werden, dass sie alle Sinnesorgane ansprechen: Es  gibt was zu sehen, zu hören, zu riechen, zu fühlen.
  • Die Geschichten müssen so erzählt werden, dass sie an Erfahrungen, Vorstellungen, Gedanken der Kinder anknüpfen. Astrid Lindgren erzählt von Pippi: Es gab niemand, der Pippi „zwingen konnte, Lebertran zu nehmen, wenn sie lieber Bonbons essen wollte.“
  • Die Geschichten müssen Gefühle und Stimmungen ansprechen. Die Gefühlswelt ist so unterschiedlich wie das Wetter: Es gibt Sonnenschein und trübe Tage, Hitze und Frost, Regen und Hagel, Blitz und Donner, Sturm und drückende Schwüle. So unterschiedlich sind auch die Stimmungen von Geschichten. Am besten ist, wenn in Geschichten mehrere Stimmungen vorkommen. Auch die Helden unserer Geschichten müssen nicht immer traurig oder immer lustig sein, sondern auch sowohl als auch. Aber es ist immer gut, wenn es in Geschichten auch was zu lachen gibt. Das gilt auch für biblische Geschichten. Die Schriftstellerin Luise Rinser hat gesagt, dass sie glaubt, dass Jesus oft gelacht habe. Aber in den Evangelien steht wenig davon.
  • Geschichten brauchen lebendige Personen. Menschen, die so sind, wie du und ich. Sie haben einen Namen. Sie sind nicht immer böse oder immer gut. Sie sind nicht immer toll. Manchmal irren sie sich, schaffen etwas nicht und sind schlecht drauf. Und Jesus läuft auch nicht immer mit einem langen, weißen Gewand herum.

Zusammenfassung
„Ein Mann hat eine Erfahrung gemacht, jetzt macht er die Geschichte dazu – man kann nicht leben mit einer Erfahrung, die ohne Geschichte bleibt, …, und manchmal stelle ich mir vor, ein anderer habe genau die Geschichte meiner Erfahrung…“ Max Frisch

IV. Vom Erzählen biblischer Geschichten

Biblische Geschichten sind genauso Geschichten von Erfahrungen und Erlebnissen, die Menschen gemacht haben. Sie sind in den Köpfen von Menschen gewachsen. Sie sind nicht in Gottes Kopf gewachsen. Allerdings haben viele biblische Geschichten Erfahrungen mit Gott und mit dem Glauben zum Thema.

Die Bibel erzählt, was eine Geschichte bewirken kann:

Eine Geschichte hat Nathan vom sicheren Tod bewahrt, denn König David geht nicht zimperlich mit Leuten um, die es wagen, ihn zu kritisieren. Er hat ja auch Uria in den Tod geschickt. Nur weil er der Mann von Bathseba war. Und David hatte sich nun mal in Bathseba verliebt. Da war ihr Ehemann ihm im Weg – und musste sterben.

Nathan war Prophet am Königshof. Er wußte, dass es seine Aufgabe ist, David dieses schreiende Unrecht vorzuhalten. Er wusste, das kann ihm sein Leben kosten.

Nathan versucht es mit einer Geschichte. David hört Geschichten gern. Nathan spricht David an als obersten Richter des Landes. In dieser Rolle gefällt sich David gut.

„Höre, König, es waren zwei Männer in einer Stadt, der eine reich, der andere arm. Der Reiche hatte sehr viele Schafe und Rinder; aber der Arme hatte nichts als ein einziges kleines Schäflein. Und er nährte es, dass es groß wurde bei ihm zugleich mit seinen Kindern. Es aß von seinem Bissen und trank aus seinem Becher und schlief in seinem Schoß und er hielt’s wie eine Tochter. Als aber zu dem reichen Mann ein Gast kam, brachte er’s nicht über sich, von seinen Schafen und Rindern zu nehmen, um dem Gast etwas zuzurichten, der zu ihm gekommen war, sondern er nahm das Schaf des armen Mannes und richtete es dem Mann zu, der zu ihm gekommen war.“

Die Geschichte tut Wirkung. David gerät in großen Zorn über den Mann und spricht zu Nathan: So wahr der HERR lebt: Der Mann ist ein Kind des Todes, der das getan hat!

Da spricht Nathan zu David: Du bist der Mann!

 

Eine kleine Geschichte mit großer Wirkung.
Wenn wir biblische Geschichten erzählen …
… erleben wir oft das Gegenteil:

Kinder sagen:

„Biblische Geschichten sind langweilig!“

„Bleib mir fort mit diesen uralten Geschichten!“

„Die Geschichten kennen wir schon in- und auswendig.“

Damit sagen Kinder:

Das sind nicht meine Geschichten. Sie gehen mich nichts an. Sie sind belanglos.

Sie sind weit weg von mir. Sie gehen nicht unter die Haut. Es sind nicht meine Lebensgeschichten.

Aber das Gegenteil muss uns beim Erzählen gelingen:

Die biblischen Geschichten werden Lebensgeschichten für die Kinder. Sie finden in ihnen Rollen finden, in denen sie Lebensmöglichkeiten ausprobieren können. Sie finden Gedanken, die ihren Horizont erweitern, die ihnen Verstehensmöglichkeiten eröffnen.

So anspruchsvoll ist die Aufgabe. Einfacher geht’s nicht.

Lebensthemen und biblische Geschichten

Es lohnt sich, zu den Lebensthemen, biblische Geschichten zu suchen, es gibt eine große Vielfalt von Geschichten in der Bibel, jedem fällt eine ein …

 

Lebensthemen

 

Geschichten

Von Krankheit und Tod
Von Hunger und Durst
Von Unglück und Rettung
Von schwierigen und geglückten Beziehungen
Vom Großwerden, Erwachsenwerden und Älterwerden
Von Stärke und Schwäche
Von Gut und Böse, vom Richtigmachen und Falschmachen
Von Angst und Hoffnung im Blick auf die Zukunft
Von den Rätseln der Welt
Von der Suche nach dem Sinn des Lebens und nach Gott

V. Vom Text der Bibel zur erzählten Geschichte

1. Der Text der Bibel (Markus 10, 46 – 52, Lutherbibel)

Die Heilung eines Blinden bei Jericho

46Und sie kamen nach Jericho. Und als er aus Jericho wegging, er und seine Jünger und eine große Menge, da saß ein blinder Bettler am Wege, Bartimäus, der Sohn des Timäus. 47Und als er hörte, dass es Jesus von Nazareth war, fing er an, zu schreien und zu sagen: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! 48Und viele fuhren ihn an, er solle stillschweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner!

49Und Jesus blieb stehen und sprach: Ruft ihn her! Und sie riefen den Blinden und sprachen zu ihm: Sei getrost, steh auf! Er ruft dich! 50Da warf er seinen Mantel von sich, sprang auf und kam zu Jesus. 51Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Was willst du, dass ich für dich tun soll? Der Blinde sprach zu ihm: Rabbuni, dass ich sehend werde. 52Jesus aber sprach zu ihm: Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen. Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach auf dem Wege.

Die Fremdheit des Textes

  • Alte Sprache
  • „Erbarme dich meiner“
  • Alte Zeit und andre Welt
  • Heute geht man zum Augenarzt
  • Schwierige Verstehbarkeit
  • Wo ist Jericho?
  • Kurzfassung
  • Wir erfahren Vieles nicht. Seit wann ist B. blind?
  • Wundergeschichte
  • Unsere Zweifel: So etwas gibt es doch nicht!

Wichtig: Alle Fragen, Zweifel, Ärger eingestehen!

2. Die Geschichte und ich

Ich versetze mich in die Geschichten hinein und lasse mich berühren.

„Da warf er seinen Mantel von sich.“ Den findet er nie wieder, wenn er nicht sehend wird. Der kann soch nicht seinen einzigen Besitz hinter sich werfen!

Um was geht es in der Geschichte?

  • Eine Geschichte vom Sehen
  • Wer sieht was in der Geschichte.
  • Die Jünger wollen Bartimäus nicht sehen.
  • Jesus sieht Bartimäus.
  • Was sehe ich, was übersehe ich?

 

Ein Schlüsselgedanke für die Geschichte: Ich sehe mit anderen Augen

3. Die Kinder und die Geschichte

Kinder und Wundergeschichten: Kleine Kinder leben in einer Welt voller Wunder. Die dreijährige Juliana geht im Garten den steilen Abhang herunter und hält sich am Ast eines Baumes fest. „Danke, lieber Baum!“, sagt sie laut. Die Welt ums sie herum ist voller Leben. Der Baum hört mich. Der Teddybär ist lebendig. Alles ist voller Wunder. Ich muss und ich kann sie nicht erklären.

Das Kind ab dem Schulalter kann sich immer mehr erklären. Es will wissen und muss lernen, wie alles funktioniert. Das Denken orientiert sich an der Realität. Der Zweifel am Wunder ist ein notwendiger Schritt zum Selbständigwerden. Der Verlust der Leichtgläubigkeit und des Kinderglaubens ist nicht beklagenswert. Kinder in diesem Alter darf man nicht auf den Wunderglauben festnageln: Das musst du glauben.

Sie können sich aber trotzdem im übertragenen Sinn wundern: Alle haben Bartimäus übersehen. Jesus übersieht den Blinden nicht.

Größere Kinder: Vorpubertät und Pubertät bringen Verunsicherung. Zweifel an allem, was bisher fest stand. Auch die Realität wird bezweifelt, damit reift ein neuer Sinn für das Wunder. Ich kann nicht mehr alles erklären und muss es auch nicht.

 

Vom Sehen und Übersehenwerden

Kinder spielen: Ich sehe was, was du nicht siehst … Bei diesem Spiel erleben sie durchs Raten etwas sehen lernen. Erst sind sie blind und dann sind sie sehend.

4. Wie ich die Geschichte erzählen will

Ich erzähle eine Geschichte davon, wie gut es tut, wenn jemand uns die Augen aufmacht und uns etwas neu sehen lehrt.

Ich erfinde eine Person, die die Geschichte mit Bartimäus erlebt und dabei sehend wird in dem Sinn, dass er nun Menschen mit anderen Augen sieht. Diese Person steckt in der Geschichte drin. Es ist einer von denen, die Bartimäus angefahren haben, er solle still schweigen. Er hat in Bartimäus einen Menschen gesehen, der wegen seiner Behinderung und weil er ein elender Bettler ist nichts zu sagen hat. Dieser Mensch erlebt, wie Jeusus unter all den vielen Menschen ausgerechnet Bartimäus für den Wichtigsten hält und ihn vor allen anderen sieht. Dadurch gehen ihm die Augen auf und er lernt den blinden Bettler als unendlich wertvollen Menschen sehen, als Kind Gottes.

5. Fantasiearbeit:

hineinversetzen, ausschmücken, gestalten

6. Die Erzählsituation

  • Atmosphäre
  • Wir schenken mit den Geschichten den Kindern einen kostbaren Schatz von Lebensgedanken.
  • Es geht um grundlegende Lebensthemen.
  • Deshalb brauchen wir eine Erzählsituation, die dem gerecht wird:
  • Notwendige Stille
  • Gemütliche Ecke, gemütliches Sitzen
  • Nichts, was ablenkt.

Das Erzählritualritual

  • Geschichten versetzen uns in eine andere Welt.
  • Ein Ritual kann deutlich machen, dass wir uns jetzt auf diese Reise begeben.
  • Erzählen an  einem besonderen Ort: auf Kissen sitzend im Kreis
  • Beginn markieren: Liedstrophe; Erzählkerze oder Öllampe; Gong; Einladung zum Augen schließen (wer will)
  • Ein symbolischer Gegenstand in der Mitte weckt Spannung.

Die Erzählung selbst

  • Präsent vortragen: Ich will es euch erzählen
  • Frei oder abgelesen nach eigener Begabung
  • Alles vermeiden, was die Kinder aus der Welt der Geschichte herausreißt: Nicht durch Fragen unterbrechen.
  • Kinder mit der Geschichte fesseln.

 

Erzählen mit Medien – Bedenken

Erzählen mit Bildern, mit einem Bodenbild, an einem Sandkasten, mit biblischen Figuren, mit Playmobilfiguren u.s.w.

Erzählen mit Bewegungen, erzählen mit Chor, mit Musik u.s.w.

Zweifellos können solche begleitenden Medien die Aufmerksamkeit und die Wirkung einer Geschichte steigern. Beispiel dafür sind gute Bilderbücher. Es lohnt sich, Bilderbücher daraufhin anzuschauen lesen, wie hier Geschichte und Bild sich gegenseitig bereichern. Wenn die Bilder nur Illustration der Geschichte sind, ist es ein schlechtes Bilderbuch.

 

Ich plädiere für einen kritischen und sparsamen Einsatz von zusätzlichen Gestaltungsmedien beim Erzählen und nenne dafür Kriterien:

  • Eine gute Geschichte kann ganz aus sich selbst wirken. Umgekehrt: Eine Geschichte, die Kinder nicht fasziniert, kann ich auch durch eine Gestaltung drumherum nicht retten.
  • Eine gute Geschichte weckt bei den Kindern Bilder, die ihrer persönlichen Fantasie entspringen. Die Gestaltung beim Erzählen kann mit den Bildern im Geist der Kinder in Konflikt geraten.
  • Erfahrung: Die Verfilmung eines Buches enttäuscht mich.
  • Bildangebote und Gestaltungen zielen auf die Handlungsebene der Geschichte. Die wirklichen Aussagen sind aber oft auf der emotionalen Ebene. Gefühle sind kaum darstellbar.
  • Bildangebote und Gestaltungen stellen oft das dar, was leicht zu verstehen ist. Wenn Jesus sagt: Ich bin das Brot des Lebens, ist es unnötig, ein Brot zu zeigen, weil jede und jeder weiß, wie ein Brot aussieht. Die provokative Äußerung Jesu wird damit aber nicht gezeigt.
  • Bildangebot und Gestaltungen können geschmacklos sein und der Geschichte den Ernst nehmen. Beispiel: Playmobilfigur als Gekreuzigter.

Fazit: Die zusätzliche Gestaltung der Geschichte muss zusätzlich genau durchdacht werden, ob sie der Geschichte wirklich dient oder kontraproduktiv von der Tiefe der Geschichte ablenkt.

Nach der Geschichte

  • Zurück aus der Welt der Geschichte in die Welt der Realität Grimms Märchen: „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“ Dieser Satz markiert die Rückkehr aus der Märchenwelt in die Welt von heute.
  • Pause aushalten
  • Abschlussritual: Kerze Löschen – Bewegungslied nach langem Stillsitzen
  • Wenn uns etwas beeindruckt hat können wir  nicht sofort über einen tiefen Eindruck reden.
  • Nie nach der Geschichte abfragen. Die Kinder dürfen von der Geschichte mitnehmen, was sie wollen und nicht das, was wir erfragen.
  • Gespräch: Kinder müssen mit ihren Meinungen und Gefühlen zu Wort kommen. Aufgabe für den Erzählenden ist jetzt das Zuhören, ohne die Aussagen zu bewerten.

 

7. Verarbeiten der Geschichte

Eindruck verlangt nach Ausdruck. Das ist für mich die beste Beschreibung für die Aufgabe der kreativen Methoden zur Weiterarbeit an der Geschichte.

Ausdruck kann sein:

  • Nachspielen der Geschichte
  • Nachspielen mit Figuren
  • Malen der Geschichte
  • Weiterspielen und weitermalen der Geschichte
  • Übertragen der Geschichte
  • Begegnung der Geschichte mit anderen Geschichten und Gedanken

 

Zuhören mit offenem Mund und Augen

Wenn Kinder so zuhören, ist das eine gelungene Erzählsituation. „Die Geschichte hat mir die Augen geöffnet. Ich sehe jetzt die Welt mit anderen Augen.“

 

Ich sehe jetzt mit anderen Augen (Bartimäus nacherzählt)

Er legt den dreckigen, verschlissenen Mantel auf den Tisch. Dazu den schmutzigen Schal, den Stock und die Mütze, lauter wertloser Kram. Nein, nicht ganz, in der Mütze liegen Geldstücke, das einzige, was Wert hat.

Seine Frau verzieht das Gesicht: „Nahum, kannst du mir sagen, was diese Sauerei auf unserem Esstisch soll?“

„Ja, das muss ich dir erklären“, sagt Nahum ganz ruhig, aber man spürt trotzdem, wie aufgeregt er ist.

„Ich sehe diese Dinge mit anderen Augen. Für mich sind sie wertvoll geworden: Mantel, Schal, Mütze und Stock. Du wirst es verstehen, wenn dich dir erzähle, was ich heute erlebt habe.

Der Tag fing ganz normal an. Ich holte Wasser am Brunnen und schleppte den großen Tonkrug zu meinem Stand am Stadttor. Dann ging das Geschäft los: Wer Durst hatte, kaufte frisches Wasser, zwei Groschen der Becher. Das Geschäft lief gut. Ich war gut gelaunt und da tat ich etwas, was ich sonst nicht tue. Ich nahm einen Becher Wasser und brachte ihn dem Blinden, der immer da vor dem Tor am Wegrand sitzt und bettelt. Er wollte sogar bezahlen. Lächerlich, von einem Bettler nehme ich kein Geld. Wir kamen ins Gespräch. Er erzählte mir, wie dunkel es für ihn ist, seit er nicht mehr sieht. Dunkel vor allem, weil niemand ihn sieht. Alle machen einen Bogen um ihn. Manche werfen noch ein paar Münzen in die Mütze, schauen ihn aber nicht mal an. Das spürt der.

Und das, was jetzt passiert, muss ausgerechnet mir passieren: Da kommt plötzlich eine große Menschenmenge in die Stadt. Es gibt ein richtiges Gedränge. Sie kamen von weit her; man sieht das an den staubigen Sandalen. Ich hätte ein tolles Geschäft machen können mit meinem frischen Wasser. Aber ich hocke da bei dem Blinden und mein Verkaufsstand ist auf der anderen Seite, dazwischen das Gedränge – kein Rüberkommen. Auch Leute aus der Stadt drängen auf die Straße. Was ist bloß los? Man hört dieses und jenes Gerücht. Schließlich erfährt man: Jesus von Nazareth kommt in die Stadt, der berühmte Mann, den alle hören wollen. Auch der Bettler wird ganz unruhig. Da hinten in der Menge muss Jesus irgendwo sein – wo das Gedränge am größten ist. Man hört ihn sogar reden.

„Ruhe, Ruhe!“ rufen einige. Ja, jetzt versteht man sogar einige Worte. In dem Moment brüllt der Bettler hinter mir los: „Jesus, Sohn Davids, hab Mitleid mit mir!“

Drei oder vier Männer stürzen sich auf den Bettler und halten ihm den Mund zu. „Ruhig jetzt, Donnerwetter!“, schreien sie. Auch ich habe ihn angebrüllt: „Was willst denn du von Jesus? Halt den Mund!“ Dann ist es wieder ruhig. Wir versuchen, die Worte von Jesus zu verstehen. Da brüllt der Blinde wieder los: „Jesus, Sohn Davids, hab Mitleid mit mir!“ Er brüllt so laut, dass sein Gesicht rot wird wie Feuer. Er brüllt so laut, dass niemand wagt, ihn anzufassen.

„He, du da“, ruft mich plötzlich einer an. Ich reagiere erst gar nicht. Dann wieder: „He, dich meine ich. Jesus hat gesagt, der Mann, der Schreihals, soll zu ihm kommen. Hilf ihm doch bitte – der ist doch blind.“ Oh, war mir das peinlich, ich als angesehener Wasserverkäufer, mit vier großen Krügen und einem eigenen Stand, ausgerechnet ich soll mich als Blindenführer für einen zerlumpten Bettler hergeben. Ich nehme den Bettler bei der Hand – es ekelt mich, ihn anzufassen. Die Menge weicht zurück – sie wollen dem Bettler auch nicht zu nahe kommen – doch da – ich weiß nicht wie das geschehen kann – da führe nicht ich mehr den Blinden, der Blinde führt mich, er zieht mich hinter sich her. Eine Hand streckt er nach vorne aus zu. So kommt der Blinde zu Jesus. Ich reiße mich schnell von seiner Hand los mit dem einzigen Ziel, schnell wieder zu meinem Stand zu kommen.

„Hoffentlich hat mich niemand erkannt!“, das war mein erster Gedanke. „Sonst habe ich bald einen Spitznamen: ‚Bettlerfreund’ oder gar ‚Blindenhund’!“ Aber ein zweiter Gedanke kommt mir auch: Warum kümmert sich Jesus – manche sagen sogar, er sei der Sohn Gottes – um keinen anderen, als nur um diesen blinden Bettler? Warum?

Die Menge lief langsam auseinander. Viele kauften bei mir Wasser. Ich hatte alle Hände voll zu tun und kein Auge für die Leute um mich herum. Doch da sehe ich – der Krug fällt mir aus der Hand – ganz nahe bei mir vorbei läuft Jesus. Neben ihm der Bettler. Jesus sagt gerade zu ihm: „Dein Glaube hat dir geholfen.“ Da sehe ich: Er hat keine Augenbinde mehr. Da sehe ich ihm in die Augen. Da sehe ich: Das ist ja Bartimäus, der Sohn der Timäus. Er ist so alt wie ich. Wir sind zusammen in die Synagoge gegangen, in die Schule. Da dreht sich Bartimäus zu mir um und sagt: „Danke, Nahum!“

Da trifft mich ein Gedanke trifft wie ein Blitz: „Mensch, Nahum, bist du blind! Stehst jeden Tag an deinem Stand am Stadttor. Und ein Steinwurf entfernt sitzt der Blinde. Und das ist Bartimäus, dein Freund von früher. Du siehst ihn nicht, nur weil er blind ist.

Weißt du was: Jesus hat mich sehend gemacht. Ich sehe jetzt die Menschen mit anderen Augen. Ich sehe jetzt auch im elendsten Bettler das Kind Gottes.

Bartimäus ist mit Jesus mitgegangen. Ich bleibe hier. Ich bleibe an meinem Wasserstand mit meinem fünf Krügen und meinen Bechern, von denen einer zu Bruch ging. Hier will ich von nun an versuchen, die Welt mit Jesu Augen zu sehen.

Da liegt der Schal von Bartimäus. Damit waren seine blinden Augen verbunden, jahrelang. Wenn ich den Schal sehe, kommt er mir vor, als hätte er auch meine Augen verbunden, bis heute. Heute wo Jesus es hell gemacht hat.

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